Zur Vorgeschichte
Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 brachte für die Physik in Berlin einen tiefen Einschnitt. Eine Linie großer Tradition wurde abgebrochen. Albert Einstein, Erwin Schrödinger und einige hoffnungsvolle jüngere Physiker emigrierten. Der Eingriff einer Politik mit neuer "Weltanschauung" schuf nicht nur leicht erkennbare Lücken, sondern zerstörte auch eine international geachtete Atmosphäre wissenschaftlicher Arbeit.
Trotz der widrigen Umstände hielt oder entwickelte sich in Berlin in den dreißiger und noch in den frühen vierziger Jahren eine ansehnliche physikalische Forschung, auch Grundlagenforschung. Man muß dies nüchtern feststellen, auch wenn das schöne Bild erfolgreicher Arbeit seine dunklen Flecken durch den politischen Hintergrund erhält, in den die Handelnden auch dann verstrickt waren, wenn sie die Ziele des Systems nicht oder nicht durchweg bejahten. Stätten beachtlicher Forschung waren nicht nur die Institute der beiden Hochschulen, der Friedrich-Wilhelms-Universität und der Technischen Hochschule, sondern auch und sogar zuerst die anderen wissenschaftlichen Institutionen in der Stadt einschließlich der Forschungslaboratorien der großen Industriebetriebe. Da viele der dort tätigen Wissenschaftler am Lehrbetrieb der Hochschulen beteiligt waren und die Institutionen Plätze für wissenschaftliche Arbeiten anboten, war das Lehrangebot der Hochschulen reichhaltig. So findet man z.B. noch im Vorlesungsverzeichnis der Universität für das Wintersemester 1943/44 viele bekannte Namen. Neben Christian Gerthsen und Hans Otto Kneser als Experimentalphysiker, Werner Heisenberg und dem bereits entpflichteten Max von Laue als Theoretiker, Werner Kolhörster vom Institut für Höhenstrahlforschung erscheinen mit Lehrveranstaltungen u.a.: Karl Wirtz und Hermann Schüler vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin-Dahlem, Siegfried Flügge und Josef Mattauch, Physiker bei Otto Hahn am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem, Hans Kienle und Ludwig Biermann vom Astrophysikalischen Observatorium Potsdam, Eduard Justi vom Kältelaboratorium der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Werner Heisenberg und Max von Laue gehörten als Direktor bzw. Stellvertretender Direktor zugleich zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik.
Um diese Zeit, 1943/44, zeichnete sich aber das Ende ab, das für die Physik in Berlin in einen Zusammenbruch im Mai 1945 mündete. Im Sommer 1943 wurde das Physik-Gebäude der Technischen Hochschule ein erstes Mal von Bomben getroffen, bis zum Sommer 1944 erheblich beschädigt. Der wachsende Luftkrieg führte zur Verlagerung des Kaiser-Wilhelm-Instituts nach Württemberg. Damit wanderten die Mitarbeiter ab. Auch Laboratorien der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und Industrielaboratorien wurden verlagert. Noch in den letzten Tagen des Kampfes um Berlin wurde das Physik-Gebäude der Universität am Reichstagsufer vollständig zerstört. Unmittelbar nach dem Ende des Krieges setzten die Demontagen ein. Eine Gruppe von Physikern ging mehr oder weniger gezwungen in die Sowjetunion. Prominentester Vertreter dieser Gruppe war Gustav Hertz, der 1935 aus rassischen Gründen seine ordentliche Professur an der Technischen Hochschule aufgeben mußte und Leiter eines großen Forschungslaboratoriums bei der Fa. Siemens geworden war. Die oft beschworene Vokabel vom "Beginn am Nullpunkt" trifft sicher die Lage der Physik in Berlin nach dem Ende des Krieges besonders gut.
Die Universität, im Ostsektor Berlins gelegen und ihres alten Namens beraubt, geriet bald in die Abhängigkeit von der Sowjetischen Militäradministration und von dort unter die Aufsicht der "Zentralverwaltung für Volksbildung" der Sowjetischen Besatzungszone. Christian Gerthsen - obwohl Parteigenosse - überstand den Wandel und bemühte sich um den Neuanfang. An Forschung war zunächst nicht zu denken, zumal unter den Restriktionen der alliierten Anordnungen. Es bedeutete schon viel, daß im WS 1946/47 mit der großen Experimental-Vorlesung der Lehrbetrieb für Physiker aufgenommen werden konnte. Im Januar 1946 war die Universität offiziell wiedereröffnet worden. Ein Institut für angewandte Physik in der Invalidenstr. 42, das zur Landwirtschaften Fakultät gehört hatte, war erhalten geblieben. Es wurde zu einer Keimzelle für den Neuaufbau der Experimentalphysik. Hier fand die große Vorlesung statt; hier auch wurde das Anfänger-Praktikum eingerichtet.
Zu Professoren neu berufen wurden Friedrich Möglich und Robert Rompe, der über seine aktive Mitarbeit in der KPD, später SED, noch im Sommer 1945 zum Leiter der Hauptabteilung für Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen in der Zentralverwaltung für Volksbildung aufstieg. Beide kamen aus der Industrie, der OSRAM-Studiengesellschaft, wo sie mit Plasmaphysik beschäftigt gewesen waren. F. Möglich vertrat die Theoretische Physik. R. Rompe wurde Direktor eines II. Physikalischen Instituts, das sich um die Lehre im Hauptstudium - Vorlesungen und Fortgeschrittenenpraktikum - kümmerte, von dem es aber auch später hieß: "Das II. Physikalische Institut war für viele Jahre die feste Basis des unermüdlichen Kommunisten Robert Rompe für die Realisierung der Wissenschafts- und Bündnispolitik der Partei,...".
Im Sommersemester 1946 kam Hans Lassen hinzu. Er war am 29. Januar zum "Professor mit vollem Lehrauftrag" ernannt worden. Seine akademische Karriere war 1935 unterbrochen worden, als man ihm die von der Fakultät beantragte Ernennung zum außerordentlichen Professor an der Universität zu Köln aus politischen Gründen verweigerte. Er hatte danach ein Unterkommen bei der Firma Siemens gefunden. Nach seiner Berufung war er neben Christian Gerthsen im Anfänger-Praktikum tätig und hielt Spezialvorlesungen ab. Als Christian Gerthsen zum Wintersemester 1948/49 einem Ruf nach Karlsruhe folgte, übertrug man Hans Lassen kommissarisch die Leitung des I. Physikalischen Instituts. Dies sollte nur eine kurze Episode werden. Am 4. Dezember 1948 wurde die Freie Universität im Westteil der Stadt gegründet, zum 1. April 1949 Hans Lassen auf den Lehrstuhl für Physik berufen. Dieser Termin markiert den offiziellen Beginn der Physik an der Freien Universität.
Unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern jener Jahre ragt Werner Stein hervor. Er wurde im Februar 1946 Assistent bei Prof. Rompe, wirkte auch als Dozent, wechselte aber bereits zum Wintersemester 1949/50 an die Freie Universität, wo er Assistent am neu gegründeten Physikalischen Institut bei Prof. Lassen wurde. Früh betätigte er sich als sozialdemokratischer Politiker und stieg in West-Berlin schließlich zum Senator für Wissenschaft und Kunst auf.
Wer - wie der Autor dieses Berichts - die ersten Jahre nach dem Ende des Krieges als Physik-Student an der (Ost-) Berliner Universität verbracht hat, wird diese Zeit trotz der beginnenden Politisierung in guter Erinnerung behalten. Der politische Druck wirkte sich noch nicht auf die untere Ebene des Studiums aus. Fachlich hervorragend war die Mathematik vertreten. Fast alle Studienanfänger waren "zu alt", waren durch Kriegsdienst oder Diskriminierungsmaßnahmen im NS-Staat daran gehindert worden, ihr Studium früher zu beginnen. Der Zusammenhalt unter den Studenten war gut (was nicht etwa daran zu messen ist, daß man sich mit "Sie" anredete, wenn man nicht besonders befreundet war). Man wußte zu schätzen, was es bedeutete, nach all dem schrecklichen Geschehen etwas so Schönes tun, aus dem immer noch bedrückenden Alltag in die heile Welt der Wissenschaft fliehen zu können. Materielle Motive oder ein utilitaristisches Verständnis von Wissenschaft spielten wohl für die meisten damals keine Rolle. Dazu war auch die Zukunft noch zu ungewiß. Man wollte - man durfte - anfangen. Das war alles und war viel. Wärmelehre im kalten Hörsaal bei knurrendem Magen - was bedeutete das schon? Auf was für Reste von Schreibpapier wurden mathematische Übungen geschrieben!
Es war dieser Geist, der mit einigen jungen Leuten von der Universität Unter den Linden, die sich dann bald (offiziell ab 8. Februar 1949) Humboldt-Universität nannte, zur neu gegründeten Freien Universität herüberkam und hier die Aufbauphase mitbestimmte.