Erschütterungen und beginnender Wandel
Die Freie Universität kannte seit ihrer Gründung eine Form und einen Umfang studentischer Mitbestimmung, die für eine deutsche Universität ungewöhnlich waren und zu dem Argwohn beitrugen, mit dem viele Mitglieder der etablierten westdeutschen Universitäten der Freien Universität lange Zeit begegneten. Nach der Satzung vom 4. November 1948 gehörte zur Fakultätsvertretung neben den Professoren und einem Vertreter der Privatdozenten ein Student der jeweiligen Fakultät. Außerdem entsandte die Studentenschaft zwei Vertreter in den Akademischen Senat und einen Vertreter in das Kuratorium (das für sich allein als Ausdruck der besonderen Rechtsstellung der Freien Universität ein Novum war). Diese Regelungen waren Anerkennung für den Beitrag, den engagierte Studenten zur Gründung der Freien Universität geleistet hatten. Daneben gab es die verfaßte Studentenschaft mit einem gewählten Konvent und einem vom Konvent gewählten AStA (Allgemeinen Studentenausschuß), die erhebliche Befugnisse hatten und über beträchtliche Mittel verfügten.
Die so institutionalisierte "Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden" war viele Jahre ein konstruktives Element in der Entwicklung der Freien Universität. Drängende Probleme gab es genug: die wirtschaftlichen, zunächst verstärkt durch die Blockade und ihre Folgen, dann lange Jahre durch den Zustrom von mittellosen Studenten aus Ost-Berlin und der DDR; das Bemühen um Anerkennung, Gewinnung von Professoren, innerdeutschen und internationalen Austausch. Die Leistungen der studentischen Selbstverwaltung in den ersten Jahren nach der Gründung der Universität waren beachtlich, eindrucksvoll auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den anderen Organen der Universität, die sich z. B. in der Mitwirkung bei den Zulassungen äußerte.
Als die Universität im Dezember 1963 ihr 15-jähriges Bestehen feiern konnte, gab der AStA ein Sonderheft seiner Zeitschrift FU-Spiegel heraus, das mit 26 Beiträgen - hauptsächlich von Professoren und Studenten - ein Bild von Aufbau und Entwicklung der Freien Universität vermittelt. Es ist John F. Kennedy gewidmet, der im November 1963 ermordet und kurz zuvor am 26. Juni 1963 Ehrenbürger der Freien Universität geworden war. Als Einleitung stehen nebeneinander Geleitworte des Regierenden Bürgermeisters (Willy Brandt), des Senators für Wissenschaft und Kunst (Dr. Adolf Arndt), des Rektors (Prof. Herbert Lüers) und des 1. AStA-Vorsitzenden (Werner Gebauer). Das Heft wurde den Mitgliedern des Lehrkörpers vom 1. AStA-Vorsitzenden und dem Pressereferenten mit "besten Wünschen für ein gutes Weihnachtsfest und eine weitere erfolgreiche Arbeit im Neuen Jahr" und "mit besten Empfehlungen" übersandt. Hier war der Geist der Gründerjahre noch lebendig.
Wenige Jahre später war davon in der Öffentlichkeit der Universität nichts mehr zu spüren, die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in ihr Gegenteil verkehrt. Hochschulinterne Fragen, mehr und mehr das Drängen auf eine Universitäts- und Studienreform, wurden mit einer allgemein-politischen "außerparlamentarischen Opposition" verknüpft, deren Kampf sich bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Erscheinungen letztlich gegen die Grundordnung der Bundesrepublik überhaupt richtete. Träger des Kampfes waren linksorientierte Studentengruppen, um diese Zeit unter Führung des SDS (Sozialistischen Deutschen Studentenbundes). Erklärtes Ziel war die Durchdringung aller Bereiche mit marxistischem Gedankengut und die Ausrichtung von Lehre und Forschung daran. Dies sollte Vorbild und Vorreiter für eine gesellschaftliche Revolution werden. Man orientierte sich auch innerhalb der Universität an den Prinzipien eines Klassenkampfes. Durch gezielte Aktionen und Provokationen wurden an vielen Stellen die Grundlagen für einen akademischen Diskurs zerstört. Gemäßigte Gruppen, die sich zur Grundordnung der Bundesrepublik bekannten und auch deutlich für Reformen einsetzten, hatten es schwer, sich bei den allgemeinen Turbulenzen überhaupt Gehör zu verschaffen.
Niemand wird - wie fast immer in solchen Fällen - genau sagen können, wieviele Studenten die Elite der Wortführer wirklich hinter sich hatte. Die "Vollversammlungen", die wesentlicher Teil der Strategie wurden und mit einer angemaßten Entscheidungskompetenz die legalen Gremien (mit ihren "formal-demokratischen Abstimmungsritualen") aushebeln wollten, brachten es durchaus auf tausend oder mehr Teilnehmer, wenn es sich um zentrale Veranstaltungen handelte.
Es ist hier nicht der Ort und fällt nicht in die Kompetenz des Autors, die kritische Situation der Universität im zweiten Drittel der sechziger Jahre umfassend zu schildern und die Auswirkungen zu verfolgen, die schließlich zum Universitätsgesetz vom 1. August 1969 führten, einem Markstein in der Entwicklung der Freien Universität. Bei einem so komplexen System, wie es die Universität darstellt, gerät jede allgemeine Darstellung in die Gefahr, sich auf einzelne spektakuläre Ereignisse und ihre Akteure zu beschränken, weniger auffällige Bereiche außer acht zu lassen.
Die Physik war damals ein solcher Randbereich, obwohl sich die Erschütterungen der Universität natürlich auch hier auswirkten. Die Auseinandersetzungen hielten sich aber in einem Rahmen, der keine spektakulären Ereignisse aufkommen ließ. Das hatte zum einen den einfachen (wenn auch immer wieder einmal bezweifelten) Grund, daß sich die Grundlagen des Faches und die Formen ihrer Vermittlung nur schwer in eine ideologische Zwangsjacke bringen lassen. Ein weiterer Grund war die gerade einsetzende Verjüngung des Lehrkörpers. Hier war es schwerer als anderswo, den "Mief von tausend Jahren" zu entdecken, der nach einem damals aufkommenden Spottvers "unter den Talaren" schlummern sollte. Die Bereitschaft auch zu kritischen Diskussionen mit den Studierenden war groß. Schließlich gab es viele Assistenten und Studentische Hilfskräfte, die in Praktika und Übungen kleine Gruppen betreuten; die höheren Vorlesungen hatten nur geringe Teilnehmerzahlen. Diplomanden, Staatsexamenskandidaten und Doktoranden waren in Institutsgemeinschaften eingebunden. Das Zerrbild des Ordinarius, der, durch einen tiefen Graben getrennt, über einer anonymen Masse von Studenten thront, paßte hier schlecht.
Ein Ergebnis studentischer Proteste war die Einrichtung von Studienreformkommissionen für die einzelnen Fächer, Fakultäten und den Senat. Die oben erwähnte Studienreformkommission Physik war eine der ersten, die ihre Arbeit aufnahm. Darauf weist der Fachschaftsleiter Physik der Studentenvertretung (Reinhard Karcher) in einem Rundschreiben vom 23.11.1966 ausdrücklich hin. Das Schreiben richtet sich an die "lieben Kommilitoninnen" und "lieben Kommilitonen" und enthält als Anlage einen Fragebogen zum Physikalischen Anfängerpraktikum. Alles ist noch in der Höflichkeitsform abgefaßt. Außerdem wird zu einem Offenen Abend am 6. Dezember im Klubhaus der Studentenschaft eingeladen, auf dem über die Arbeit der Studienreformkommission Physik berichtet werden soll. "Empfehlungen für das Anfängerpraktikum, der Studienreformkommission Physik vorgelegt von ihren studentischen Mitgliedern" (5.11.1966) waren eine sachliche Diskussionsgrundlage. Ein Jahr später, am 4.12.1967, veranstaltete die Studentenvertretung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät im großen Clubsaal der Evangelischen Studentengemeinde eine Diskussion zur Reform des Physik-Studiums mit mehreren Referenten. Der Autor dieses Berichtes gehörte mit einem Referat "Über die Reform des Physikalischen Anfängerpraktikums" dazu. Auch hier noch würdige Formen des Umgangs, Bereitschaft zum Zuhören, Diskussion ohne Störung durch eine undisziplinierte Öffentlichkeit. Für die Mitglieder des Lehrkörpers und des Mittelbaus verwendete man noch die Titel. Das höfliche Einladungsschreiben war vom Fachschaftsleiter Physik (Erich Stasch) "mit vorzüglicher Hochachtung" gezeichnet.
All dies war zu dieser Zeit in der Universität keine Selbstverständlichkeit mehr; anderswo waren längst Brücken für einen Dialog zerstört worden. Einen Tiefpunkt stellte eine vom AStA einberufene Veranstaltung im Henry-Ford-Bau am 26.11.1966 dar, eine öffentliche Diskussion zwischen dem Rektor (dem jungen, aufgeschlossenen Philosophen und Soziologen Hans-Joachim Lieber) und Studenten. Die Veranstaltung wurde von einem "Provisorischem Komitee zur Vorbereitung einer studentischen Selbstorganisation" gesprengt. Man entriß dem Rektor das Mikrophon und verlas ein Flugblatt, das an die Teilnehmer verteilt wurde und mit seinem einleitenden Satz "Von diesem Gespräch haben wir nichts zu erwarten" jegliche Diskussion abbrach. Charakteristisch für den aufkommenden Stil war der Begriff des "professoralen Fachidioten", der bald die Runde machte und es auch gutwilligen Professoren schwer machte, sich an Diskussionen zu beteiligen: "Wir müssen uns herumschlagen mit schlechten Arbeitsbedingungen, mit miserablen Vorlesungen, stumpfsinnigen Seminaren und absurden Prüfungsbestimmungen. Wenn wir uns weigern, uns von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausbilden zu lassen, bezahlen wir mit dem Risiko, das Studium ohne Abschluß beenden zu müssen." Das Flugblatt wurde im Mitteilungsblatt MATH. NAT. der Studentenvertretung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät mit dem Hinweis abgedruckt, daß es "immer wieder diskutiert" würde.