Die "Kritische Universität" und das Jahr 1968
Zu Beginn des Wintersemesters 1967 wurde eine "Kritische Universität" (KU) ausgerufen, eine "Freie Studienorganisation der Studenten in den Hoch- und Fachschulen von Westberlin", die sich als Gegenbewegung innerhalb der Universität verstand: "Die Studenten haben mit der KU begonnen, die Studienreform nicht nur zu fordern, sondern sie selbst in die Hand zu nehmen". Die Forderungen waren radikal: "Die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse an der Freien Universität (Zulassungen, Prüfungen, Dienstherrenprivilegien, Disziplinarrecht), die konformes Verhalten erzeugen, sind in der KU abgeschafft"... "Gerade die in dieser Gesellschaft Benachteiligten müssen - um sich emanzipieren zu können - sich an der wissenschaftlichen Arbeit beteiligen. Deshalb arbeiten in der KU Mitglieder aus allen sozialen Schichten"..."Vorlesungen stellten für die KU keine geeignete didaktische Methode dar".... Zur politischen Ausrichtung heißt es: "Wenn sie [die FU; G.S.] so die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, die die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse bestimmen, undiskutiert läßt und damit unterstützt, ist sie ebenso politisch wie die KU, die jedoch bewußt die Ergebnisse ihrer Arbeit reflektiert und nur den Kräften der Gesellschaft zur Verfügung stellt, die Herrschaft beseitigen wollen."
Der Akademische Senat lehnte jede Unterstützung der KU ab. Einige Professoren bekundeten ihre Sympathie. In einer Zwölf-Punkte-Erklärung von Professoren, die auch von fünf Physikern unterzeichnet wurde, wird zur Besonnenheit im Umgang mit der KU gemahnt, die Dringlichkeit einer Studien- und Hochschulreform unterstrichen, die Mitwirkung der Studenten grundsätzlich begrüßt, aber auch in deutlicher Abgrenzung gegen politische Indoktrination festgestellt: "Nicht in die Universität gehören jedoch Veranstaltungen, die Wissenschaft in bloße Legitimation vorab festgelegter Meinungen und Aktionen verfälschen".
Die Kritische Universität war ein loser Zusammenschluß von Arbeitskreisen, die sich wegen ihrer allgemein-politischen Ausrichtung überwiegend nicht einzelnen Universitätsdisziplinen zuordnen ließen. Sie bestand nur kurze Zeit. Schon nach einem Jahr war sie als Organisationsform nicht mehr zu erkennen, was nicht heißt, daß nicht einzelne Initiativen fortlebten. Besondere Veranstaltungen im Fach Physik gab es nicht.
Die Kritische Universität war Ausdruck zunehmender Polarisierung. Immer mehr wurden von den Wortführern der radikalen Gruppen politische Ereignisse und Entwicklungen benutzt, um Studenten für den Kampf innerhalb der Universität zu mobilisieren, der wie die "außerparlamentarischen" Aktionen sonst als revolutionärer Kampf gegen die "Herrschenden" angesehen wurde. Bemühungen um Reformen im Rahmen der gegebenen Ordnung wurden als "systemstabilisierend" abgetan.
Ohne Zweifel gab es in dieser Zeit vieles, was zur Kritik herausforderte: die Ereignisse beim Besuch des Schahs von Persien im Juni 1967, die zum Tod des Studenten Benno Ohnesorg führten; der Vietnam-Krieg der USA; das mißbrauchte Pressemonopol des Springer-Verlages; im Jahre 1968 die Notstandsgesetzgebung der Großen Koalition. Für verständliche Erregung sorgte auch der Anschlag auf den Studentenführer Rudi Dutschke zu Ostern 1968. Guten Gewissens konnte sich niemand einer Auseinandersetzung mit diesen Themen verweigern. Die Art und Weise aber, in der sie von den Studentenführern in die Universität getragen, für ihre umfassenden Ziele - in der Sprache der Zeit geredet - "instrumentalisiert" wurden, ließ eine wirklich kritische Diskussion nicht aufkommen, führte die Universität an den Rand des Chaos. Es gab "sit-ins" und "go-ins". Institute wurden besetzt. Bei einer Besetzung des Rektorats am 27. Juni 1968 und der Räumung durch die Polizei entstanden erhebliche Schäden. Am 10. Juli wurde das Rektorat erneut besetzt. Die Studenten brachen Schreibtische und Schränke auf und warfen Akten und Stempel aus dem Gebäude. Fakultätssitzungen wurden gesprengt. Alle Hemmungen fielen, was die Herabwürdigung des Rektors und einzelner Professoren anging.
Auch in dieser kritischen Phase gab es Unterschiede der Fakultäten und Fächer. Zentrum der Unruhe war die Philosophische Fakultät. Bemerkenswert ist das Ergebnis der Konventswahlen Anfang Dezember 1967. Von den 24 gewählten Mitgliedern der Philosophischen Fakultät gehörten 22 zum linken Spektrum, d.h. zum SDS und den verbündeten Gruppen. Ganz anders in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Hier hatten sich die "Nicht-Linken" (die man damals undifferenziert als "Rechte" bezeichnete) einem Wahlbündnis VAFU (Vereinigte Arbeitsgemeinschaften an der FU) angeschlossen. Bei einer Wahlbeteiligung von 67,8 % wurden die acht Kandidaten dieses Bündnisses auf die ersten Plätze bei insgesamt 13 zu besetzenden Sitzen gewählt. Unter den übrigen fünf gewählten Konventsmitgliedern war ein SDS-Mitglied; drei Kandidaten, darunter die beiden gewählten Physiker, rechneten sich nicht zu einer Hochschulgruppe. Die VAFU hatte sich deutlich gegen die Kritische Universität und den Aktionismus des SDS ausgesprochen, ebenso deutlich aber für eine umfassende Hochschul- und Studienreform.
Derweil liefen unter der Ägide des Senators Prof. Stein die Vorbereitungen für das neue Universitätsgesetz. An dem interfakultativen Otto-Suhr-Institut hatte ein Gruppe von Professoren, Assistenten und Studenten im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung eine Institutssatzung mit Regeln paritätischer Mitbestimmung ausgearbeitet. Der Akademische Senat versagte zweimal - zuletzt am 9. Juli 1968 - die beantragte Genehmigung zum vorläufigen Vollzug der Satzung, was zu Gegenreaktionen führte, u.a. zu der Besetzung des Rektorats am 10. Juli. Die Affäre um das Otto-Suhr-Institut ließ erkennen, was auch an anderen Ereignissen abzulesen war: daß der Riß, der durch die Universität ging, nicht mehr nur die Studenten betraf. Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät billigte die erneute Zurückweisung der Satzung des Otto-Suhr-Instituts durch den Akademischen Senat mit 29 gegen sieben Stimmen bei fünf Enthaltungen.
Im Jahre 1968 setzte auch in der Physik und den anderen naturwissenschaftlichen Fächern ein Wandel in den Aktivitäten der Studenten ein. Zwar arbeitete noch die Studienreformkommission Physik und gab - wie berichtet - Mitte des Jahres ihre "Empfehlungen" zur Neuordnung des Grundstudiums heraus; aber es gewannen auch hier diejenigen an Einfluß, die Basisdemokratie praktizieren und allgemein-politische Ziele durchsetzen wollten.
Noch im Rahmen sachlicher, fachlicher Arbeit hielt sich eine "Öffentliche Diskussion über einige Aspekte des Physik-Studiums" am 7. Februar, die vor allem von den Mitgliedern der Studienreformkomission getragen wurde, ebenso der Bericht, den der Fachschaftsleiter darüber einige Tage später in einem "MATH. NAT. Blatt" Nr. 8 gab. Hauptthema war die Lehrerausbildung. Etwas härter war schon der Ton in einer kritischen Resolution zum anorganisch-chemischen Praktikum vom 21. Mai, die zehn "im ... Praktikum anwesende Physikstudenten" "nach längerer Diskussion" mit 8 zu 2 Stimmen faßten.
Um diese Zeit waren die Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze auf dem Höhepunkt, und man bemühte sich, Vorlesungsboykott ("Streik") und öffentliche Diskussion auch in die Math.-Nat. Fakultät zu tragen. Ein "MATH. NAT. Blatt" Nr. 14 vom 29. Mai lieferte die politische Rechtfertigung und handfeste Anweisungen. Der Dekan (R. Honerjäger) wies die Mitglieder des Lehrkörpers unter Hinweis auf einen Beschluß, den der Akademische Senat in einer außerordentlichen Sitzung am 21. Mai gefaßt hatte, darauf hin, daß es ihre Dienstpflicht sei, die angekündigten Lehrveranstaltungen abzuhalten: "Insbesondere könne diese durch Gesetz bestimmte Pflicht nicht Gegenstand einer 'Abstimmung' unter den Teilnehmern der betr. Unterrichtsveranstaltung sein". Auch das Anfängerpraktikum wurde bestreikt. In einer von 26 Teilnehmern unterzeichneten Erklärung heißt es: "Wir halten es nicht für ein Zeichen apolitischer Haltung, das physikalische Praktikum trotz des von der Studentenschaft ausgerufenen Streiks stattfinden zu lassen, sondern es handelt sich um eine eindeutige Stellungnahme gegen diesen Streik." Gegen Ende des Jahres wurde in einem von 13 Studierenden unterzeichneten Flugblatt "Praktikum Physik" zur Gründung einer Tutorengruppe am 1. November aufgerufen. Das Flugblatt wandte sich an "alle, die sich jetzt oder später mit diesem Praktikum herumzuschlagen haben": "Was die Ausbildungsmethode betrifft, müssen wir eine Massenbewegung entfalten, die darauf abzielt, daß die älteren Semester den jüngeren bei ihrem Kampf für ein vernünftiges Praktikum und ein besseres Studium beistehen." Ein neuer Geist hielt Einzug!
Daneben gab es den mehrheitlich "rechten" Fakultätsausschuß der im Dezember 1967 gewählten Studentenvertreter der Math.-Nat. Fakulät. Er veröffentlichte im Juli Vorlesungsankündigungen für das Wintersemester 68/69, denen als Zitat aus einer chinesischen Jugendzeitschrift zwanzig "Rules of Conduct for Students" vorangestellt waren, die zu Disziplin und Gehorsam ermahnten. Das war eine Spitze gegen die maoistisch ausgerichtete Linke. Im Mai gab es Schwierigkeiten, als im Konvent ein neuer Fakultätssprecher der Math.-Nat. Fakulät gewählt werden sollte. Der mehrheitlich "linke" Konvent lehnte es - entgegen früherer Praxis - ab, den vom Fakultätsausschuß vorgeschlagenen Kandidaten zu bestätigen.
Im Laufe des Jahres änderte sich das Erscheinungsbild der studentischen Organisationen. Die klassischen politischen Organisationen - allen voran der damals dominante SDS - traten gegenüber sog. Ad-hoc-Gruppen zurück, die auf der unteren Ebene der einzelnen Fächer gebildet wurden, aber über "Vollversammlungen" und den weiter bestehenden Einfluß der politischen Organisationen auf gemeinsame, umfassende Ziele eingeschworen werden sollten. Im Dezember stand die Wahl zum 21. Konvent an; sie wurde die letzte vor dem Erlaß des Universitätsgesetzes im folgenden Jahr, das eine zentrale Studentenvertretung nicht mehr vorsah. Die Wahlbeteiligung war von 69 % im Vorjahr auf 41 % zurückgegangen. Von 14 gewählten Kandidaten der Math.-Nat. Fakultät (einschl. Nachrückern) weisen sich 13 als Mitglieder von Ad-hoc-Gruppen aus; drei vermerkten außerdem ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation. Physik-Studenten waren nicht darunter.
Um die Jahreswende 1968/69 war das beherrschende hochschulpolitische Thema die Verhängung von Strafmaßnahmen nach der Hausordnung bei Störungen des Lehrbetriebs. Die Reaktion der aktiven Studentenschaft, verknüpft mit weitreichenden Forderungen wie der Einrichtung und Ausstattung selbständiger "studentischer Sektoren", führte zu einem unruhigen Auftakt des neuen Jahres.