Studium, Prüfungen, Lehre
Prüfungsordnungen
Die hochschulpolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, daß Studien- und Prüfungsordnungen heutzutage zwar neben einem Kernbereich häufig Wahlmöglichkeiten anbieten; aber alles muß so geregelt sein, daß die Auslegung für jedermann eindeutig ist, keine Ermessensspielräume zuläßt. Wer in einer Kommission an solchen Ordnungen arbeitet, muß ständig die Gefahr vor Augen haben, den nächsten Prozeß heraufzubeschwören, wenn nicht alle Regelungen juristisch "wasserdicht" sind.
Hätten diese Grundsätze strenger "Verrechtlichung" der Ordnungen schon in den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges gegolten, hätte man so bald nicht mit dem Lehrbetrieb beginnen können. Damals hatten - in diesem Fall: zum Glück - Fakultäten, Dekane und Professoren traditionell erhebliche Freiheit, Anforderungen den jeweiligen Gegebenheiten durch schnellen Entscheid anzupassen. So konnte etwa die knappe Promotionsordnung für die Philosophische Fakultät der Freien Universität aus dem Jahre 1949, die damals auch für die naturwissenschaftlichen Fächer galt, den lapidaren Satz enthalten: "Über die für die Promotion zugelassenen Fächerverbindungen entscheidet der Dekan", eine Ermächtigung, die nur durch einen allgemeinen Hinweis auf "sinnvollen Zusammenhang" und nicht zu starke "Einengung des Fachbereichs" ergänzt wurde. Dort steht übrigens auch, daß es "bis zur Behebung der gegenwärtigen Druckschwierigkeiten" ausreiche, die Dissertation in sieben Schreibmaschinenexemplaren einzureichen. Eine ausführlichere Promotionsordnung wurde erst 1955 von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät erlassen.
Von größerer Bedeutung waren zunächst das Diplom- und das Lehramtsexamen.
Das Diplomexamen in Physik an Universitäten war bei der Gründung der Freien Universität noch recht neu. Es war 1942 eingeführt worden, und zwar - wie damals üblich - durch eine reichseinheitliche Prüfungs- und Studienordnung, die vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) erlassen wurden. Zu dieser Zeit hatte sich die seriöse Physik nach Ausschaltung der ideologisch motivierten "Deutschen Physik" bei den Machthabern Ansehen erworben, war ihre Bedeutung erkannt worden. Am Anfang des Erlasses vom 7. August 1942 heißt es: "Die wachsenden Anforderungen, die Staat, Wehrmacht und Wirtschaft an die Physiker und Mathematiker stellen, machen es notwendig, die Ausbildung der künftigen Vertreter dieser Fachgebiete auf eine neue Grundlage zu stellen". Allzu enge Ausrichtung auf Anwendungen wird aber abgelehnt: "Ein zu starkes Hervorheben der technischen Anwendungen der Physik auf allen diesen Gebieten müßte im Studium aus zeitlichen Gründen zu einer Einschränkung der physikalischen Allgemeinbildung und damit zu einer unerwünschten Spezialisierung führen." Hier scheint die Kampagne der Physiker zur Rehabilitierung ihres Faches erfolgreich gewesen zu sein, bei der stets der hohe Rang der Grundlagenforschung als Voraussetzung für spätere Anwendungen hervorgehoben wurde. Bei den Beratungen im REM war die Deutsche Physikalische Gesellschaft durch ihren Vorsitzenden, Carl Ramsauer, vertreten, wie man dem Jahresbericht 1941 der Gesellschaft entnehmen kann. Dort heißt es auch lapidar: "Es wurde die Einführung des Diplomexamens für Physiker an den Universitäten befürwortet".
Herausgekommen waren Ordnungen, an die man sich offenbar nach dem Kriege ohne Schwierigkeiten anlehnen konnte. An der Freien Universität entstand noch im Rahmen der Philosophischen Fakultät im Sommer 1950 eine "Diplom-Prüfungs-Ordnung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Abteilung". Die Physik war eines von sechs Fächern. Diese Ordnung wurde im April 1958 durch eine Ordnung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät abgelöst, ohne daß für das Fach Physik wesentliche Änderungen eintraten. Von 1968 an mußten im Zuge der einsetzenden Reformen einige Formulierungen geändert oder neu interpretiert werden, was ohne juristischen Aufwand geschehen konnte. Die Arbeit an einer neuen Prüfungsordnung und einer zugehörigen Studienordnung setzte erst nach der Gründung des Fachbereichs Physik im Jahre 1970 ein.
Die Anforderungen sind in den Ordnungen von 1950 und 1958 noch recht knapp und allgemein formuliert. Es fällt auf, daß bei den Vorlesungen der Theoretischen Physik zwar die klassischen Disziplinen (einschließlich einer gesonderten Vorlesung "Optik") vollständig aufgezählt werden, die Quantenmechanik aber deutlich abgesetzt und "unterkühlt" mit der Forderung "Einführung in die Quantentheorie" bzw. "eine einführende Vorlesung über Quantentheorie" erscheint.
Die Einführung der Ordnung von 1950 führte zu einer Kontroverse, die deutlich macht, daß damals Diplomprüfungen für viele Professuren noch Neuland waren. Man hatte die von der Fakultät beschlossene Ordnung der vorgesetzten Behörde "zur Kenntnisnahme" vorgelegt, mußte sich von dort aber belehren lassen, daß sie "zur Genehmigung" einzureichen sei.
Die Berliner Behörde sandte den Entwurf über das Büro der Ständigen Konferenz der Kultusminister mit der Bitte um Stellungnahme an die Kultusministerien der Bundesländer. Es ging darum, die bundesweite Anerkennung der Berliner Examina zu sichern. Die Kultusministerien wandten sich damit an die jeweiligen Universitäten. Aufschlußreich sind Bemerkungen in den Stellungnahmen zweier bekannter Physiker.
Hans Kopfermann von der Universität Göttingen bemängelt, daß in allen Prüfungen ein Beisitzer verlangt wird, der Protokoll führt: "Ich halte das für überflüssig". Er wendet sich auch gegen die Regelung, das Thema der Diplomarbeit bereits beim Beginn der Arbeit dem Vorsitzenden der Prüfungskommission (Dekan) mitzuteilen: "Man sollte das allein dem Diplomvater überlassen, so wie das bisher bei uns üblich ist". Hier wird deutlich, daß die Ordnung der Freien Universität bereits einige moderne Elemente enthält, die Professoren "alter Schule" anstößig erschienen.
Walter Weizel aus Bonn findet, daß selbst diese knappe Prüfungsordnung noch "zu viele einzelne Vorschriften enthält". Seine Stellungnahme schließt mit dem Satz: "Im ganzen möchte ich sagen, dass wir mit unserer eigenen Diplom-Prüfungs-Ordnung seit über 10 Jahren ausgezeichnete Erfahrungen machen und dass wir keinen Grund haben, sie abzuändern" [20]. Es wird also auf eine ungebrochene Tradition über die Schwelle von 1945 hinweg verwiesen. (Der letzte Teil des Satzes beruht auf dem auch bei anderen Empfängern aufgetretenen Mißverständnis, die zugesandte Berliner Ordnung sei als Muster für Neufassungen zu verstehen).
Größer waren die Probleme bei dem Lehramtsexamen. Wohl oder übel war man zunächst an die "Ordnung der Prüfung für das Lehramt an Höheren Schulen im Deutschen Reich" aus dem Jahre 1940 gebunden. Diese Ordnung läßt natürlich, besonders im allgemeinen Teil und bei den geisteswissenschaftlichen Fächern, deutlich den politischen Hintergrund erkennen. Die rein fachlichen Anforderungen werden nur knapp, ohne quantitative Aufschlüsselung auf Lehrveranstaltungen, formuliert. Bei der Physik wird "Kenntnis der ... wichtigsten Anwendungen in der Technik, insbesondere in der Wehrtechnik und im Leben des Volkes" erwartet, ferner "Übersicht über die neueren Fragestellungen der experimentellen Physik und ihre geschichtliche Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Anteils deutscher Forscher". Im übrigen aber nur allgemein gehaltene Formulierungen von der Art "Kenntnis der wichtigeren Tatsachen und Gesetze aus allen Gebieten der Experimentalphysik", "ausreichende mathematische Kenntnisse", "Überblick über die Grundtatsachen der theoretischen Physik", "Nachweis der erfolgreichen Teilnahme an physikalischen Übungen" usw.! Damit war jede irgend denkbare Studienordnung verträglich.
Die Ordnung von 1940 sah für die Prüfung ein "Grundfach" und zwei "Beifächer" vor. An die Stelle der zwei Beifächer trat schließlich e i n entsprechend aufgewertetes "zweites Fach", wobei es bis heute geblieben ist. Der Weg dahin war mühsam; bis zur Fixierung einer neuen Ordnung vergingen neun Jahre. Die Zwischenzeit ließ sich durch vertrauensvolle Absprachen zwischen dem zuständigen Wissenschaftlichen Landesprüfungsamt und den jeweils wenigen Professoren der einzelnen Fächer auch ohne rechtliche Basis überbrücken.
Die föderale Struktur der Bundesrepublik ließ es nicht zu, die alte "Reichsordnung" aus dem Jahre 1940 durch eine einheitliche "Bundesordnung" zu ersetzen. Es begann auch in diesem Punkt die koordinierende Arbeit der Kultusminister-Konferenz. Den einzelnen Ländern waren Rahmenbedingungen für ihre Ordnungen vorzugeben, um so vor allem die gegenseitige Anerkennung der Examina sicherzustellen. Ein Beschluß, den die Delegierten der Schulausschüsse als Vertreter der Länder Ende Mai 1951 in Calw faßten, war für die Naturwissenschaften alarmierend. Es wurde der Begriff des "Langfachs" und damit eine unterschiedliche Wertung der Schulfächer eingeführt. Wer ein Langfach studierte, sollte nur noch in e i n e m weiteren Fach geprüft werden. Die übrigen Fächer sollten untereinander nur in einer Dreier-Kombination wählbar sein. Die sechs Langfächer waren nach dieser Empfehlung die philologischen Fächer und die Mathematik. Zurückgesetzt waren damit die naturwissenschaftlichen Fächer (und das Fach Geschichte). Dahinter stand offensichtlich eine nach dem Ende der NS-Herrschaft weit verbreitete Geisteshaltung. Das Heil wurde allein in einer Rückbesinnung auf alte humanistische Werte gesehen; die angeblich "nur" praktischen Naturwissenschaften ohne umfassenden Bildungswert wurden eher argwöhnisch betrachtet. Offiziell erhob man - wie der Terminus "Langfach" andeutet - den nicht weiter hinterfragten Anteil der einzelnen Fächer an den Stundentafeln der Schule zum Maßstab für die erforderliche Qualifikation des Lehrers.
Die eben gegründete Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Freien Universität protestierte sofort. Sie wurde von der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät unterstützt. In einem Brief an den Senator für Volksbildung vom 19. Juni 1951 erinnert der Dekan daran, daß eine vom Wissenschaftlichen Landesprüfungsamt einberufene Kommission im Januar einstimmig "eine unterschiedliche Wertung der verschiedenen wissenschaftlichen Fächer ausdrücklich abgelehnt" habe: "Diese Calwer Prüfungsordnung widerspricht in allen wesentlichen Punkten dem Berliner Beschluß". Allerdings ging man noch in Anlehnung an die Ordnung von 1940 von einem Grundfach und zwei Beifächern aus.
Bereits um diese Zeit (im Juli 1951) legten die beiden Fachvertreter der Physik (Prof. Lassen und Prof. Ludwig) eine detaillierte Aufstellung der Prüfungsanforderungen für Physik als "Hauptfach" und als "Nebenfach" vor. Darin ist als Novum die Einführung eines Zwischenexamens für Lehramtskandidaten enthalten, was auch einer inzwischen veröffentlichten Empfehlung des Verbandes Deutscher Physikalischer Gesellschaften entsprach. Diese sinnvolle Forderung mußte 31 (in Worten: einunddreißig) Jahre warten, ehe sie 1982 zum ersten Mal in einer Berliner Ordnung erfüllt wurde!
Im folgenden Jahr, 1952, gab es Unterstützung von der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Nach Vorarbeit durch den Schulausschuß wurden auf einer Arbeitstagung der Rektorenkonferenz und des Hochschulverbandes im August "Richtlinien für die Neugestaltung der Prüfungsordnungen für das Lehramt an höheren Schulen" beschlossen. Darin ist die Physik (als einziges naturwissenschaftliches Fach!) in den Rang eines Langfachs im Sinne des Calwer Beschlusses erhoben.
Am 1. September 1958 trat dann in West-Berlin die "Vorläufige Ordnung der Ersten (Wissenschaftlichen) Staatsprüfung für das Amt des Studienrats" in Kraft. Sie sieht generell die Prüfung in zwei Unterrichtsfächern vor, einem "ersten Fach" und einem "zweiten Fach". Ein Nachklang des Calwer Beschlusses ist nur noch als eine Empfehlung in §16 enthalten, die Zusammenstellung der Prüfungsfächer "sollte jedoch sinnvoll sein und die Verwendbarkeit im Schuldienst berücksichtigen". Die fachlichen Anforderungen werden nicht - so wenig wie in der alten Ordnung aus dem Jahre 1940 - auf Lehrveranstaltungen aufgeschlüsselt und quantifiziert. Wieder fällt der zögerliche Umgang mit der modernen Physik auf. Unter den fünf "Grundgebieten" der Theoretischen Physik erscheint neben den vier klassischen Disziplinen "Atomtheorie", und nur für Physik als erstes Fach wird zusätzlich "Bekanntschaft mit den Grundlagen der Quantentheorie" gefordert. Diese Ordnung blieb bis 1980 in Kraft.